Adolf Muschg in Das Unbewusste in Zürich
über Das dunkle Gesicht

Zürich zum Beispiel*
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(...) Dierks' zweiter Roman, Das dunkle Gesicht, der nicht nur - zum wichtigsten Teil - in Zürich, sondern auch mit Zürich spielt - und in seiner Art auch mit unserem Thema "Das Unbewusste in Zürich".

Der Held der Fabel - diesen Titel verdient er sich redlich - heisst "Alt" und praktiziert als junger Psychiater am Zürcher Burghölzli, das um die Jahrhundertwende, unserer Spiel-Zeit, selbst noch jung und unter Professor Bleulers Leitung ein Vorzeigestück avancierter Zürcher Gesundheitspolitik gewesen ist. Aber Achtung: Die Szenerie trügt. Die Romantopographie Dierks' ist derjenigen Zürichs nur zum Verwechseln ähnlich; Eugen Bleuler ist nicht ganz jener Professor gleichen Namens, den man als soliden, aber eigenständigen Weggefährten Professor Freuds kennt. Und von diesem ist fast gar keine Rede, obwohl ein gleich junger Kollege des Helden Alt bereits nach dem Wiener Vorbild therapiert. Alt selber tut es nicht. (...)

Alt, um es kurz zu sagen, ist am Ende denn doch nicht Jung. Er ist, um eine Differenz, die seiner ästhetischen Wahrheit zugute kommt, mehr und weniger als der historische C.G. Er ist schlecht und recht eine Romanfigur, mit der zauberhaften Doppelbegabung, an ihren Schatten zu wachsen und von ihnen als Figur selbst zur Glaubhaftigkeit gebildet zu werden. (...)

Nun aber hat jeder Roman, wenn man so will, sein eigenes Unbewusstes. Er chiffriert es als Subtext in seinem Text; in ihm, wohlgemerkt, und nicht dahinter oder darunter. Und der Reichtum dieser Subtexte, die in Dierks' Das dunkle Gesicht zu lesen sind, erlaubt, es auch als Besinnung auf unser Thema zu lesen: das "Unbewusste in Zürich". Wenn also Zürich wäre, was hier Zürich heisst, so wäre es das Zürich der Belle Époque. Es "leuchtet" wie das München des Gladius Die, leuchtet auch von Aufbruch in seiner gediegenen, zugleich bürgerstolzen und kosmopolitischen Art. (...)

Jungs, pardon: Alts Zürcher Tätigkeit spielt sich in einer Ellipse mit zwei Zentren ab: dem Burghölzli einerseits, dem Zürichberg anderseits, in dessen Gesellschaft er einheiraten wird. Aber der Weg dahin führt die Verlobten über das Arbeiterquartier, in die Absteige unter den Verdammten dieser Erde, denen die Söhne und Töchter des Bürgertums sich in Irritation oder Engagement zuwenden. Dieses Milieu der Quartierbeizen ist schon in Basel für Alt der eigentliche Jungbrunnen der Erneuerung und Selbsterprobung gewesen. Die Unterschicht bleibt, in Gestalt seiner Seelenführerin Zoia aus dem Gast- und dem Schneidergewerbe, für ihn zugleich der Eingang in die eigene Unterwelt, deren Schatten er sich aneignet, mit der er erst quitt werden muss, bevor er mit der Zürcher Oberwelt einen haltbaren Frieden machen kann. Ohne dieses "andere Gesicht", das Gesicht seines, seiner Andern, gibt es für ihn keine sichere Identität, kein Gleichgewicht der immerfort bedrohten Person. Also auch kein Glück in der Ehe, die zwar in der Oberwelt des Zürichbergs geschlossen wird, aber mit den Wassern der Unterwelt getauft bleiben muss.

Dieses Zürich liegt, wie mir scheint, nicht nur soziologisch ganz nahe beim Zürich Fritz Zorns. Dierks zeigt es durchaus von "Innen", aber in einem ganz anderen Licht als dasjenigen der Krankheit zum Tode. Mag Zürich eine Stadt des gewinnenbringenden Mittelmasses, des obligatorischen Juste milieu bleiben, so hat sie doch auch die Mittel zu bieten, die ihren Bürgern die Selbstfindung erlauben. (...)

Dieses Zürich des Wahlbürgers Alt hat ihm zu bieten, was der einheimische Fritz Angst ein Dreivierteljahrhundert später bitter vermisst hat: Raum für legitime Konflikte, Leidenschaft für den Widerspruch, auch solide Fassaden statt der Potemkinschen Kulissen einer von Angst besetzten, zum Zorn reizenden Zwangsidylle.

Aber das Unbewusste - als lehrbuchmässig verfestigte Grösse - begegnet dem Leser in diesem Zürich nicht. Vielmehr imponiert es durch die bunte Vielzahl seiner Darsteller aus allen sozialen Schichten, die dem Arzt - in den Lehrjahren seiner Heil- und Lebenskunst - in vielen Sprachen, auch denjenigen der Juden und der Rätoromanen, sagen können, was ihm zu sich selber fehlt. Als zur Autonomie verurteilte Persönlichkeit muss er sehen lernen, was davon er brauchen kann, und fühlen, wieviel davon er verträgt. Der Spielanweisung des Buches folgend, habe ich Alts zunehmender Integration in die Zürcher Bürgerlichkeit aber doch eher mit Sorge als mit Erleichterung zugesehen. Denn auch der Leser hat seine Lektion gelernt: Gut aufgehoben ist eine Figur wie Alt erst dann, wenn sie sich aussetzt; wenn sie sich auch wieder verlieren darf.

Das dunkle Gesicht gehört in das klassische Genre des Entwicklungs- oder besser: des Initiationsromans. (...)

Dass Zürich etwas dazu beizutragen hatte, als Element einer elementaren Befreiung, einer gelungenen Initiation herhalten durfte, betrachte ich als eine schöne Hommage, um so mehr, da sie gewiss nicht als solche beabsichtigt war. Für diesen Leser jedenfalls, war Zürich, nachdem er es in Dierks' Buch wiedergefunden hatte, wieder "eine Reise wert". Und es wurde davon, dass es wohlbekannte Fassaden so trefflich zu restaurieren verstand, ohne sie zugleich säubern zu müssen, wieder - Sie gestatten, Doktor Benn - eine "tiefere Stadt".


* Adolf Muschg: Zürich zum Beispiel, in: Thomas Sprecher (Hrsg):
Das Unbewusste in Zürich, Zürich (NZZ-Verlag) 2000, S.141-145